Worum geht es?
Queering Jugendarbeit, warum?
„Das ist bei uns kein Thema, die gibt es hier nicht.“ So könnte man, laut einer aktuellen Untersuchung des Berliner Senats, eine häufige Begründung dafür zusammenfassen, warum die Schule oder Jugendeinrichtungen, das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt für irrelevant hält. Dabei definiert sich mindestens jede:r neunte Jugendliche zwischen 14 und 29 Jahren als queer. Es ist eine stille Revolution im Gange, immer mehr junge Menschen können mit dem binären Geschlechtersystem nichts anfangen, definieren sich als trans oder nicht-binär, lieben gleichgeschlechtlich oder ganz unabhängig vom Geschlecht. Schön, dass so viele junge Menschen sich trauen, zu ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität zu stehen. Man könnte meinen, die Zeit, in der man sich „im Schrank verstecken musste“ , sei endlich vorbei. Doch wirft man einen Blick in die Jugendeinrichtungen und Schulen, dreht sich das Bild. Es scheint, als seien diese, zumindest was Geschlechterrollen und Sexualität angeht, tief in den 50er-Jahren stecken geblieben. Heteronormativität, also die Überzeugung, dass es nur zwei Geschlechter, Mann und Frau, gibt und dass Männer Frauen und Frauen Männer lieben, ist bestimmend und wird als Haltung weder wahrgenommen noch thematisiert. Die heteronormative Brille sitzt fest, den wenigsten ist sie überhaupt bewusst.
Es ist in unserer Gesellschaft noch immer keine Selbstverständlichkeit, lesbisch, schwul, bisexuell, transgender*, intersexuell oder kurz queer (LGBTIQ*) zu sein. Gerade Kinder und Jugendliche, die nicht heterosexuellen oder gängigen Geschlechternormen entsprechen, werden zunehmend angefeindet.
Aus Sorge vor Ablehnung und aus Angst vor negativen Folgen zögern Jugendliche ihr Coming Out hinaus, bis sie aus dem Alter der Bildungs- und Jugendeinrichtungen „herausgewachsen“ sind. Bei trans* Jugendlichen ist die Zeit besonders lang, in der sie sich ihres eigenen Geschlechts bereits bewusst sind (inneres Coming-out), aber noch mit niemand anderem darüber gesprochen haben (äußeres Coming-out), sie beträgt im Schnitt etwa sieben Jahre. Sieben Jahre, in denen sie nicht sein dürfen, wer sie sind, sieben Jahre verstecken, sieben Jahre stille Verletzungen und Angst. Zuhause, in der Schule und, so sie denn besucht wird, in der Jugendeinrichtung und im Sportverein.
Tatsächlich sind die Lebenslagen schwuler, lesbischer, trans, nicht binärer und anderer queerer Jugendlicher in der Jugendhilfe immer noch viel zu wenig bekannt. Das Fachwissen fehlt, ebenso wie ausformulierte Qualitätsstandards und das Wissen um Interventionsformen bei queerfeindlichen Ereignissen. Es gibt in der Kinder- und Jugendhilfe so gut wie keine Angebote für queere Jugendliche, sie kommen in der Öffentlichkeitsarbeit der Einrichtungen nicht vor und sind stark von Unsichtbarkeit betroffen. Homo-, und Transfeindlichkeit gehören für die meisten betroffenen Jugendlichen zum Alltag und bleibt nicht ohne Folgen. Alarmierend ist das erhöhte Suizidrisiko von queeren Jugendlichen. Es liegt 4-5 mal höher als bei anderen Jugendlichen. Von befragten trans Jugendlichen gaben 69% an, schon über Suizid nachgedacht zu haben. Einsamkeit ist ein häufiges Problem, denn viele queere Jugendliche finden weder zu Hause noch in der Schule Unterstützung und Anerkennung. Dabei sinkt laut einer Studie das Suizidrisiko um 40%, wenn nur eine erwachsene Person einen jungen Menschen sieht und unterstützt. Ist es nicht Aufgabe einer jeden Person in den Jugendeinrichtungen, dieser eine Mensch zu sein? Wie kann das sein, dass diese Jugendlichen alleine gelassen werden, handelt es sich doch hier um eine besonders vulnerable Gruppe, deren Schutz und Unterstützung zu den originären Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gehört?
Wer nun einwendet, dass dies ja keine Kinder aus der eigenen Einrichtung betreffe, der hat grundsätzlich nicht verstanden, dass geschlechtliche und sexuelle Vielfalt nicht nur diejenigen betrifft, die aus der cis-geschlechtlichen und hetero-sexuellen Norm fallen, sondern alle etwas angeht. Ebenso wie eine rassismuskritische Gesellschaft allen Menschen zugutekommt, nicht nur von Rassismus betroffenen, so ist die Normalisierung von Diversität unser aller Aufgabe. Ein Kind, das schon in der Kita lernt, dass „schwul“ ein Schimpfwort ist, wird sich ungleich schwerer damit tun, später seine Sexualität zu entdecken als ein Kind, dass einen offen schwul lebenden Erzieher hatte, der immer wieder selbstverständlich von seinem Mann und evtl. der gemeinsamen Familie erzählt hat.
Pädagogische Fachkräfte, z.B. Lehrkräfte, (Erzieher|innen|Erziehy) und (Sozialarbeiter|innen|Sozialarbeity), haben neben Eltern und (Freund|innen|Freundy) maßgeblichen Einfluss auf das Wohlergehen von queeren Jugendlichen. Trotzdem ist sexuelle und geschlechtliche Vielfalt an Schulen und anderen Jugendeinrichtungen nach wie vor nur selten ein Thema. Zudem intervenieren nur wenige Lehrkräfte und (Sozialarbeiter|innen|Sozialarbeity) konsequent bei der Verwendung diskriminierender Schimpfwörter. Teilweise machen sie sich sogar selbst lustig, wenn Jugendliche Geschlechternormen nicht entsprechen oder lachen bei diskriminierenden Witzen mit.
Für die meisten queeren jungen Menschen sind Jugendeinrichtungen und Schulen keine guten Orte. Die Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich dort nicht wieder.
Was braucht es, damit sich dies ändert?
Queere Jugendliche brauchen auf ihrem Weg Unterstützung, Informationen und Menschen, die ihnen den Rücken stärken. Sie möchten geliebt und akzeptiert werden, so wie wir alle.
„Dazu brauchen sie Unterstützung und die notwendigen Räume für Selbstfindung und Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit. Pädagog:innen sind besonders gefragt, LGBT-Jugendlichen Mut zu machen, sie zu stärken und in ihrer individuellen Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten, damit sie in Zukunft verstärkt Erfahrungen von sozialem Einschluss machen können.“
Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt …
herausgegeben von Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer, Ute B. Schröder
Dies entspricht auch dem Auftrag aus dem ersten Paragrafen im Achten Buch des Sozialgesetzbuchs, individuelle Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen, Benachteiligungen abzubauen, vor Gefahren zu schützen und positive Lebensbedingungen zu schaffen (SGB VIII, § 1). Seit 2021 werden im SGB VIII erstmals sogar ganz konkret transidente, nichtbinäre und intergeschlechtliche junge Menschen benannt. Es dürfen nun nicht viele Jahre vergehen, bis dies auch in den Jugendhilfestrukturen und vor Ort in den Einrichtungen ankommt. Es muss jetzt etwas getan werden, um Gewalt von Kindern und Jugendlichen abzuwenden.
Es ist nicht so leicht, die cis/heteronormative Brille einmal abzunehmen und sich in Jugendliche hineinzuversetzen, die sich in heteronormativen Kategorien nicht verorten. Aber genau das muss passieren, damit queere Jugendliche sich gesehen und akzeptiert fühlen. Es gibt, von einem klaren Leitbild, das auch konsequent umgesetzt wird, über Tipps für die Gestaltung der Räumlichkeiten bis hin zu Methoden- und Praxisvorschläge vieles, woran und womit die Mitarbeitenden in den Einrichtungen arbeiten können. Wie gehen Fachkräfte in Jugendclubs mit LGBTIQ*-Anfeindungen und Gewalt um? Wie können die Bedürfnisse von queeren Jugendlichen in den bestehenden Angeboten besser berücksichtigt werden? Wie bietet man allen Jugendlichen Informationen und Zugänge, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gehören zu unserer Gesellschaft und auch für nicht-queere Jugendliche ist es wichtig, dass Begriffe wie schwul, lesbisch, trans, nicht-binär und andere nicht als Schimpfworte, sondern als mögliche sexuelle oder geschlechtliche Identitäten neben heterosexuellen und cis-geschlechtlichen existieren. Eine aktuelle Studie der Berliner Senatsverwaltung hat ergeben, dass insbesondere Qualifizierung, ein einfacher Zugang zu passenden Materialien und ein inklusives Antidiskriminierungs-Leitbild der Schulen und Jugendeinrichtungen wirksame Methoden sind, um pädagogische Fachkräfte dazu zu bringen, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in ihrer Arbeit zu berücksichtigen.
Wir hoffen, mit unserer Seite dazu beitragen zu können, dass sich die Situation für queere Jugendliche verbessert und sich die Vielfalt unserer Gesellschaft endlich auch in den Jugendeinrichtungen wiederfindet.